Die Vermessung des Selbst

Simone Lackerbauer


Die Messlatte muss höher gelegt werden, Kampagnen müssen messbar sein, man muss sich mit der Konkurrenz messen, der ROI ist heute Maß aller Dinge und Erfolg im Beruf ist ein Maßstab für den eigenen Status in der Gesellschaft. Bei all diesen Messungen schwingt auch stets der Drang nach Erkenntnis mit: Um in der Arbeitswelt der Zukunft bestehen zu können, müssen wir wissen, wie die Prozesse um uns herum funktionieren und wie wir sie nachhaltig verbessern können. Deshalb ist die Frage nach der „Vermessung des Selbst“ auch eine nach der „Optimierung des Selbst“ – sowohl im Persönlichen, als auch im Arbeitsleben – und deshalb für die Arbeit der Zukunft in höchstem Maße relevant.

In Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ ist zwar unser Planet Gegenstand des unersättlichen Strebens des Alexander von Humboldt, die Erde zu kartographieren, zu katalogisieren und bestehendes Material zu optimieren. Doch die Bemühungen, die Erfassung von Raum und Zeit zu verbessern, lassen sich auch auf die Arbeitswelt, schlussendlich sogar auf die persönliche Lebenswelt übertragen: Durch die industrielle Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts wurde die Effizienz in der Warenproduktion maßgeblich gesteigert, unter dem Namen Fordismus etablierte sich im 20. Jahrhundert die standardisierte Massenproduktion und spätestens seit dem Anbruch des 21. Jahrhunderts befinden wir uns in einer Arbeitswelt, deren Abläufe von Computersystemen mit reguliert werden. Stichworte wie Prozessoptimierung oder Multi-Channel-Strategien bedeuten, dass immer noch weiter verbessert werden kann: Weniger Zeit soll für mehr Leistung aufgewandt werden, mit weniger Aufwand sollen Gewinn versprechende Konzepte auf mehr verschiedenen Wegen vertrieben werden, weniger Ressourcen sollen mehr produzieren. So optimieren Meeting-Teilnehmer beispielsweise ihre Zeit, indem sie aus der Konferenz heraus E-Mails beantworten, Pendler nutzen den Heimweg als Arbeitszeit, Abteilungen recyclen Konzepte anstatt neu zu denken.


Während in Unternehmen die Verantwortung für diesen Drang nach Verbesserung auf vielen Schultern getragen wird, so steht der Einzelne doch damit im Angesicht der steigenden Anforderungen durch die Arbeitswelt allein da. Die oft beschworene Work-Life-Balance ist an sich auch nur ein Konzept der Optimierung des eigenen Lebens: Karriere, Familie, Freunde, Freizeit unter einen Hut bringen und dabei einen lückenlosen, trotzdem nicht zu glatten Lebenslauf schmieden. Betrachtet man allein das Stichwort Karriere, so zeigt sich: Es ist längst nicht mehr ausreichend, als Angestellter innerhalb der Firma „on the job“ zu wachsen. Denn vorausgesetzt wird, dass Mitarbeiter sich aktiv um Weiterbildung bemühen – auch und vor allem außerhalb des Angebots durch den Arbeitgeber. Lebenslanges Lernen ist kein inhaltsleerer Slogan, der auf Freizeitkurse hinweist, sondern heute vielmehr eine Verpflichtung für den kreativen Arbeiter, Fähigkeiten zu erwerben und auszubauen, Zertifizierungen zu erringen und sein persönliches Repertoire stets um neue Aspekte zu erweitern. Das Wissensportfolio ist zum Aushängeschild geworden, lebenslang lernen heißt: ein Leben lang immer besser werden.


Es kommt hinzu, dass die moderne Arbeitswelt selten erlaubt, an einem Thema konzentriert zu arbeiten: Das Multitasking ist eher Regel als Ausnahme und gibt den Takt des beschleunigten Arbeitsalltags an.

Einen Schritt weiter stellt man fest, dass auch die Freizeit in vielen Fällen heute effizient getaktet ist. Bemessen wird sie durch die gezielte Auswahl interessanter Hobbys, beurteilt durch die Reaktionen der Freunde aus sozialen Netzwerken, die Aktivitäten und Fotos positiv kommentieren und so die Wahl des Einzelnen legitimieren. Location Check-Ins skizzieren die Weltkarte der vermessenen Freiheit – heute weitaus komfortabler als zu Humboldts Zeiten – und das Suchwort Lifehacking ergibt bei Google rund 1.76 Millionen Ergebnisse für Tricks, um die persönliche Produktivität zu steigern und Probleme des Alltags zu lösen.  

Zusätzlich greifen technische Geräte und Software-Applikationen in die Vermessung der Freizeit ein, aktuell beispielsweise unter dem Stichwort Connected Health: Dabei werden Waage, Smartphone, Smartwatch, Schrittzähler und Apps zu Messgeräten von sportlicher Ertüchtigung und Ernährung, die Ergebnisse analysieren und, basierend auf vorgegebenen Richtwerten, danach fast imperative Vorgaben zur Optimierung des BMI, des Ess- und Schlafverhaltens machen. Die eingebauten Belohnungssysteme „gamifizieren“ den Prozess und stimulieren den inneren Leistungsdrang: immer weiter laufen, immer gesünder essen um das nächste Level im Spiel um einen gesunden Lebensstil zu erreichen.


Sogar noch intrusiver sind Technologien, die nicht nur am, sondern sogar im Körper getragen werden. Zwar sind bionische Prothesen bislang rein im medizinischen Kontext verwendete Instrumente, um beispielsweise amputierte Gliedmaßen zu ersetzen. Doch die Grenze zur Science Fiction, zu Cyborgs und Mensch-Maschinen verschwimmt an manchen Stellen bereits, wenn magnetische Chips zur Erweiterung des Tastsinns unter der Haut verpflanzt werden, oder künstliche Exoskelette als Rüstungen dienen, um den Bewegungsapparat zu unterstützen: Die Optimierung des Selbst macht also längst nicht mehr vor dem eigenen Körper Halt.


Tritt man zuletzt aus der egozentrierten Perspektive wieder heraus, gibt es auch Anzeichen dafür, dass die Wahl von Freunden und Lebenspartner heute ebenfalls durch externe Faktoren der Optimierung beeinflusst wird. Online-Dating-Portale ähneln den Bewerberportalen von Firmen: In beiden Fällen vergleicht der Kandidat die Angebote und wählt für ihn passende Profile für die Kontaktnahme und Bewerbung um Aufmerksamkeit aus. Zugleich überträgt sich auch die Sprunghaftigkeit moderner Lebensläufe auf dieses Feld: Langjährige Betriebszugehörigkeit und feste Partnerschaften scheinen rückläufig, da doch so viele Firmen oder Menschen existieren, die besser zu einem passen könnten. Lockere, vielfach über virtuelle Kanäle Bekanntschaften ersetzen oftmals den realen Freundeskreis, bedingt durch den digitalen Nomadismus und die fragmentierten Lebensläufe jener, die sich für wechselnde Stellen und Wohnorte entscheiden, um den eigenen Werdegang mit den in der heutigen Zeit notwendigen Zutaten zu würzen.


So wird anhand dieser Beispiele aus verschiedenen Aspekten des Arbeits- und Privatlebens deutlich, dass der Drang – vielleicht sogar Zwang – zum stetigen Besserwerden vor keinem Bereich Halt macht. Vorausgesetzt, der Einzelne lässt sich auf dieses Spiel ein, bei dem die Karotte vermutlich ein Leben lang knapp außerhalb der eigenen Reichweite vor der Nase hängt. Denn egal wie viel man bereits erreicht oder geleistet hat: Es gibt immer noch etwas, das zu tun oder zu lernen sinnvoll wäre, um das Selbst noch weiter zu optimieren.