Dummies lernen programmieren?

Claus Ehrhardt

 

Die Digitalisierung hat durch Corona gerade einen mächtigen Schub bekommen. Es fehlen laut BITKOM bereits über 80.000 IT-Entwickler, Softwarearchitekten und Data Scientists allein im Jahr 2020. Logische Konsequenz: Nicht alle Projekte der Digitalisierung können auf herkömmliche Weise realisiert werden. Wird die Digitalisierung hierzulande also zukünftig weiter so langsam und träge umgesetzt werden? Droht jetzt neben dem Umsetzungsstau aufgrund mangelnder strategischer Digitalkompetenz auch noch ein veritables Ressourcenproblem?

Das Ressourcenproblem ist unbestritten eine nicht zu unterschätzende Gefahr, aber vielleicht kommt die Antwort auf diese Fragen ebenfalls aus dem technischen Bereich. Der folgende Bericht eines Anwenders zeigt das typische Problem und eine interessante Lösung beispielhaft:

 

„Auf der Suche nach einem Umsetzungspartner für eine innovative Projekt- und Dokumentenmanagement-Software, die den „Kunde-zu-Kunde-Prozess“ abbilden kann, wurde ich oft enttäuscht. Die Software soll zu jeder Projektphase oder zu jedem „Sprint“ im Produktentwicklungsprozess alle notwendigen Dokumente sammeln und deren Umsetzungsstatus je Phase zeigen. Die Freigabe der Phase und Fortsetzung des Projektes soll nur dann möglich sein, wenn im Dokumentenmanagement Vollständigkeit angezeigt wird. Eine relativ einfache Sache, dachte ich - aber offensichtlich nur mit einer kompletten Systementwicklung inklusive einer Programmierumgebung und angemessener „Programmiersprache“ umsetzbar. Üblicherweise ist das mit immens hohen Kosten und einer langen Entwicklungsphase verbunden. Durch die Verlagerung der Geschäftsaktivitäten nach Oberfranken ins Land der „Hidden Champions“ kam der Zufall ins Spiel. Ich wurde aufmerksam auf eine Firma, die eine Plattform für sogenannte No-Code oder Low-Code-Applikationsentwicklungen zur Verfügung stellen kann - Livinglogic AG mit der Plattform „LivingApps“. So sollte ich einer der frühen Nutznießer eines Paradigmenwechsels in der IT werden. Dort kommt der „Code aus dem Baukasten“. Natürlich muss man sich diesen „Baukasten“ inhaltlich erst einmal selber erarbeiten. Es ist schon ab und an die Unterstützung von Seiten der Business- und Plattformentwickler der Livinglogic AG notwendig. Dazu kommen Werkzeuge zur Generierung von Web-Seiten mit HTML, CSS und Java-Script. Aber jetzt mache ich meine Anwendungen, die ich oder der Kunde von mir braucht, aus eigener Kraft einfach selbst.“

 

Wenn man sich den Praxisbericht ansieht und die Folgen zu Ende denkt, wird das enorme Potential dieser Plattformen deutlich. Mit Bausteinen und einer Plattform-Anwendung sowie mit „Drag and Drop“-Menüs gelingt es funktionalen Mitarbeitern der Fachabteilungen, Web-Anwendungen ohne umfangreiches IT-Vorwissen zu „programmieren“. Diese Plattformen können also in der Unternehmenspraxis zur pragmatischen digitalen Abbildung vieler Prozessabläufe eingesetzt werden, für die nicht das gesamte Knowhow und die gesamten Ressourcen von IT-Abteilungen oder im schlimmsten Fall von externen Dienstleistern benötigt werden.

 

Nimmt man diesen Paradigmenwechsel in der IT ernst, stellen sich interessante Fragen für die Arbeit der Zukunft, für die Ausbildung und auch für die Rolle der Anwendungsentwicklung selbst:

 

  • Wird es in Zukunft Teil der Aufgabenbeschreibung jeder funktionalen Rolle in der Verwaltung (und darüber hinaus) sein, mit einfachen Tools die täglichen Arbeitsschritte fortwährend in digitale Prozesse umzuwandeln?

Vor 30 Jahren hatten nur wenige Mitarbeiter auf Sachbearbeiter-Ebene eine Vorstellung davon, dass ihr tägliches Tun in Prozessen dargestellt und analysiert werden kann. Die Business-Process-Revolution hat dafür gesorgt, dass heute auch in kleinsten Unternehmen von Prozessoptimierung gesprochen wird. Nun könnte man den zweiten Schritt machen: die Mitarbeiter übersetzen die neu erkannten Prozesse gleich selbst in Software und digitalisieren die Organisation sozusagen auf dezentrale Weise.

 

  • Wird die „Programmierung“ mit Hilfe Low- oder No-Code-Tools Teil jeder Ausbildung für die Praxisaufgaben sein?

Es ist bereits heute unbestritten, dass in Zukunft alle Mitarbeiter deutlich mehr von Programmieren und Coding verstehen müssen. Die Ausbildung in diese Richtung muss massiv verstärkt werden, damit Innovationen entstehen können. Das fordert aber ein hohes Maß an Bereitschaft zu lernen und insbesondere Motivation mit solchen Plattformen umzugehen.

 

  • Und was bedeutet das für die IT-Abteilungen und die Sicherstellung einer Basis-Qualität der technischen Arbeitsumgebung?

Die Entwicklungsseite wird den Anwendern weiter entgegen kommen (müssen) und Plattformen wie beispielsweise der Firma Livinglogic AG bereitstellen. Die Fachabteilungen brauchen dann die IT-Abteilung weit weniger und machen die „digitalen Helfer“ selbständig. Die Aufgaben der Kern-IT dagegen wird dadurch fast noch wichtiger: Man muss in einer sehr dynamischen Umgebung Qualität und Integration aufrechterhalten.